krankten Kassenmitglieder lag es aber gewiß nicht. Durch die Kämpfe mit den Aerzten wurde den Kassenverwaltungen und den Kassenmitgliedern die Ueberzeugung, daß es nicht auf eine billige, sondern auf eine möglichst wirksame ärztliche Hilfe ankomme. Die Zahl der Kassenärzte wurde bedeutend vermehrt und Spezialärzte aller Spezialitäten: Chirurgen, Augenärzte, Dermatologen, Syphilidologen, Kehlkopf- und Nasenärzte, Nervenärzte, Frauenärzte wurden für die Behandlung der Versicherten gewonnen. In einigen Städten, wie in Berlin, Frankfurt a. M., München werden von allen oder einigen Krankenkassen zur Behandlung der Versicherten alle Aerzte zugelassen, die sich dazu unter bestimmten Bedingungen bereit erklärt haben, und es steht dann den Versicherten in jedem Krankheitsfalle frei, sich einen unter diesen Aerzten zu wählen. Nur dieses Arztsystem, das man als freie Arztwahl bezeichnet, kann vom hygienischen Standpunkte aus der ärztliche bleibe hier unberührt als ein voll befriedigender in der Krankenversicherung angesehen werden; denn nimmt man einem Erkrankten die Möglichkeit, sich in einer Krankheit von demjenigen Arzte behandeln zu lassen, zu dem er Vertrauen hat, so schaltet man von vornherein ein sehr wichtiges Moment des Heilerfolges aus. Dem Einfluß der Aerzte ist es auch zu verdanken, daß die Krankenfürsorge bei der deutschen Krankenversicherung immer mehr und mehr ausgestaltet wird. Natürlich können hierbei kleine, finanziell schwache Gebilde nicht dasselbe leisten, wie die großen Krankenkassen der großen und industriellen Städte: aber überall werden auch bei erkrankten Kassenmitgliedern die verschiedenen Methoden der modernen Heilkunde in Anwendung gebracht, als die Hydrotherapie, Elektrotherapie, Massage, mediko-mechanische Behandlung, zur Feststellung der Diagnose stehen bakteriologische und chemische Apparate und Röntgenkabinette zur Verfügung, alle erprobten, selbst sehr kostspielige, Heilmittel kommen zur Anwendung, und zur Verkürzung chronischer Leiden, zur Verhütung akuter Schwächezustände werden fast von allen Krankenkassen alle möglichen Stärkungsmittel, wie Tropon, Hämatogen, Plasmon, auch Wein und Milch gewährt. Da bei der heutigen Behandlungsart gewisse Krankheiten am schnellsten in einem Krankenhause heilen, wo für die Heilung weit günstigere Bedingungen vorhanden sind, als in dem beschränkten Wohnraume eines Arbeiters, so spielt bei den Ausgaben der Krankenversicherung der Posten für Krankenhauspflege cine recht beträchtliche Rolle. Bisher sind die Krankenkassen nur zur Gewährung der Kur und Verpflegung im Krankenhause berechtigt, nicht durch das Gesetz dazu verpflichtet: das ist ein Mangel, denn weder der Versicherte, noch für ihn sein Arzt kann die Krankenhauspflege beanspruchen, selbst wenn es auf der Hand liegt, daß auf andere Weise eine zweckmäßige ärztliche Behandlung nicht möglich ist. Aber sehr viele Kassen haben in ihren Statuten es festgesetzt, daß auf Antrag des Kassenarztes und Verfügung des Vorstandes Krankenhauspflege eintritt. Ohne Zustimmung des Erkrankten kann dieser in ein Krankenhaus gewiesen werden, wenn er unverheiratet ist, keine eigene Haushaltung hat und auch nicht Mitglied der Haushaltung seiner Familie ist oder wenn die Art der Krankheit Anforderungen an die Behandlung oder Verpflegung stellt, welchen in seiner Familie nicht genügt werden kann oder wenn die Krankheit eine ansteckende ist oder wenn der Erkrankte die bei der Kasse gültigen Vorschriften für Erkrankte nicht beobachtet oder sein Zustand oder sein Verhalten eine fortgesetzte Beobachtung erfordert. Für die Angehörigen eines im Krankenhause Untergebrachten muß die Kasse eine Geldunterstützung im Mindestbetrage des halben Krankengeldes bezahlen und ihm selbst kann sie außerdem noch ein Viertel des durchschnittlichen Tagelohns bewilligen. Neben den Krankenhäusern, den Sanatorien der verschiedensten Art wird neuerdings von den Krankenkassen vielfach von den Walderholungsstätten Gebrauch gemacht, die ihre Entstehung der Anregung der Berliner Aerzte Dr. Wolf Becher und Dr. Rudolf Lennhoff verdanken. Es sind dies Plätze, die mit einer Döckerschen Wirtschaftsbaracke, einer Schutzhalle, einem Trinkwasserbrunnen und den nötigen Tischen, Stühlen, einer Waschgelegenheit, wollenen Decken, Spuckflaschen, einigen Betten für plötzliche Erkrankungsfälle ausgestattet sind und sich in staubfreiem, der Großstadt nahegelegenem Walde befinden. An der Spitze einer solchen Erholungsstätte, die nur dem Tagesaufenthalt der Kranken und zumeist nur während des Sommers dient, steht eine Krankenschwester, der ein geringes Dienstpersonal für die Küchenarbeit beigegeben ist. Die dauernde Anwesenheit eines Arztes hat sich nicht als erforderlich herausgestellt. Die Patienten erhalten unter den billigsten Bedingungen oder oft auf Kosten der Kasse Milch und ein einfaches Mittagessen. Diese Walderholungsstätten haben sich bei der Behandlung leichter Tuberkulöser, bei Nervenkranken, Bleichsüchtigen, Magen- und Herzkranken, sowie bei Rekonvaleszenten aller Art vorzüglich bewährt, und viele chronische Kranke wurden durch den Aufenthalt in ihnen so weit gebessert, daß sie im Winter ihrer Berufsarbeit wieder nachgehen konnten. 1) Die Geldentschädigung der Krankenversicherung besteht 1. in einem, während einer mit Erwerbsunfähigkeit verbundenen 2. in der an die Angehörigen des in einem Krankenhause unter- 4. in einem Sterbegeld im Mindestbetrage des zwanzigfachen des Der Krankenversicherungszwang ist für die gewerblichen Arbeiter und für die ihnen in wirtschaftlicher Beziehung gleichstehenden Betriebsbeamten und Handlungsgehilfen mit einem Jahresverdienst bis 2000 M. eingeführt. Die Grundlage des Krankenversicherungszwanges ist die unselbständige Beschäftigung, so daß gewerblich selbständige 1) Vergl. Bielefeldt, Arbeiterversicherung und Volksgesundheit, Berlin 1904 und Honigmann, Arbeiterversorgung, 1903. Bericht üb. d. XIV. Intern, Kongr. f. Hygiene u. Demographie. II. 65 Personen (mit alleiniger Ausnahme der Hausgewerbetreibenden) demselben nicht unterliegen; das Gesetz gibt aber auch selbständigen Personen die Möglichkeit, sich durch freiwilligen Eintritt in die Versicherung zu versichern. Leider besteht reichsgesetzlich noch kein Krankenversicherungszwang für Dienstboten und land- und forstwirtschaftliche Arbeiter, derselbe ist aber landesgesetzlich in einigen deutschen Bundesstaaten eingeführt. Die deutsche Krankenversicherung gab in den 10 Jahren. 1885 bis 1904, aus: V, 4 Bekämpfung der Tuberkulose, Fürsorge für Phthisiker. Von Prof. Dr. Martin Kirchner (Berlin). Unter den Gegenständen, welche auf unserem Kongresse zur Verhandlung gelangen, beansprucht die Bekämpfung der Tuberkulose eine besondere Bedeutung. Denn einerseits ist die Tuberkulose die verbreitetste Volkskrankheit, welche nicht nur die Sterblichkeit an Infektionskrankheiten, sondern die Gesamtsterblichkeit geradezu beherrscht, andererseits ist es bei ihrer räumlichen Verbreitung, vermöge deren sie bei keinem Volke und in keinem Klima fehlt, von der größten Bedeutung, daß eine Aussprache und womöglich eine Einigung unter den verschiedenen Nationen über die Methoden zustande kommt, welche es ermöglichen, dieser furchtbaren Geißel des Menschengeschlechts Herr zu werden. Mit Genugtuung können wir feststellen, daß der Kampf, welcher seit nun bald 20 Jahren gegen diese heimtückische Krankheit begonnen hat, bereits Früchte gezeitigt und besonders in Deutschland zu einer merklichen Abnahme der Tuberkulose geführt hat. Nach den Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes starben an Lungenschwindsucht in deutschen Orten mit 15000 und mehr Einwohnern von je 100000 Lebenden Die Tuberkulosesterblichkeit hat also in diesen Orten in den 28 Jahren 1877 bis 1904 um 46,5%, also fast um die Hälfte abgenommen. Nach den Mitteilungen des preußischen statistischen Landesamtes starben an Lungentuberkulose im gesamten preußischen Staat von je 100000 Einwohnern Die Abnahme der Tuberkulose in Preußen betrug also in dem Zeitraume von 28 Jahren 41,8%, also mehr als 2/5. Das sind höchst erfreuliche Tatsachen, welche uns zu fröhlicher Hoffnung berechtigen. Denn wenn von manchen Seiten, z. B. von Ascher in Königsberg, behauptet wird, diese statistisch nachgewiesene Abnahme der Sterblichkeit an Tuberkulose beruhe auf Trugschlüssen und werde durch eine entsprechende Zunahme der Sterblichkeit anderen Krankheiten der Atmungsorgane wettgemacht, so kann ich das nicht zugeben, vielmehr ist nicht nur eine Abnahme der Sterblichkeit an an Tuberkulose, sondern auch eine Abnahme der Sterblichkeit an Krankheiten der Atmungsorgane überhaupt zu konstatieren. Es will mich aber bedünken, als wenn in den letzten Jahren die Abnahme der Sterblichkeit an Tuberkulose nicht mehr so gleichmäßig und nicht mehr in so kräftigem Schritte erfolge, als das im Beginn der 28 Jahre der Fall war. In Preußen betrug nämlich die Abnahme der Todesfälle an Tuberkulose von dem Jahrfünft Die Abnahme zeigte also in den ersten 15 Jahren des Zeitraumes, um den es sich hier handelt, eine von Jahr zu Jahr zunehmende Deutlichkeit. Dagegen betrug die Abnahme der Tuberkulosesterblichkeit in Preußen von dem Jahrfünft " 1892/1896 zum Jahrfünft 1897/1901 nur 12,8% 1897/1901 1902/1905 gar nur 7,4% Und im Jahre 1905 ist in Preußen die Tuberkulosesterblichkeit sogar größer gewesen als im Jahre 1902. Denn von 100000 Lebenden starben an Tuberkulose im Jahre 1902: 190,4, 1903: 197,0, 1904: 192,1 und 1905: 191,3. Was sollen wir daraus schließen? Etwa, daß die Kampfesfreudigkeit nachzulassen beginnt? Oder, daß die Mittel zur Bekämpfung der Tuberkulose weniger reichlich fließen? Ich möchte annehmen, daß das Gegenteil der Fall ist. Oder sind die Wege, welche die Tuberkulosebekämpfung bisher eingeschlagen hat, falsche gewesen? Auch das läßt sich nicht sagen, die schon erzielten Erfolge sprechen dagegen. Oder waren die Kampfmittel unzulänglich? Diese Frage muß meiner innersten Ueberzeugung nach bejaht werden. Die Geschichte der Seuchenbekämpfung hat unwiderleglich dargetan, daß man einer übertragbaren Krankheit so lange wehrlos gegenübersteht, als man an ihrer Uebertragbarkeit zweifelt und infolgedessen die Uebertragung nicht verhindert. Wir wissen, daß in den ersten Jahrzehnten nach dem Einbruch der Cholera in den Kreisen der Aerzte die Mehrzahl die Kontagiosität dieser Krankheit bestritt, und noch bis in die 70er und 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein viele Forscher den Standpunkt aufrecht erhielten. Wenn auch die vielen sanitären Verbesserungen, welche man einführte, um die örtlichen Dispositionen für die Cholera aufzuheben. manchen schönen Erfolg zu verzeichnen hatten, so ist von einer zielbewußten Cholerabekämpfung doch erst von dem Augenblick ab die Rede, als durch die Entdeckung des Choleravibrios durch Robert Koch der unwiderlegliche Nachweis erbracht worden war, daß die Cholera eine übertragbare Krankheit ist. Aehnliche Erfahrungen wurden im Mittelalter mit dem Aussatz gemacht; während in der ersten Hälfte des Mittelalters diese Krankheit in der ganzen Welt verbreitet war, begann sie überall abzunehmen, als man sich auf den Standpunkt der Kontagiositätslehre stellte und in rücksichtsloser Durchführung dieser Lehre alle Aussätzigen aus der |