V, 9 Verhaltungsmaßregeln bei Impflingen zur Verhütung weiterer Ansteckung. Von Dr. Alfred Groth (München). Uebertragung von Kuhpockenimpfstoff auf Nichtimpflinge, also aut ungeimpfte oder für Vakzine mehr oder weniger empfängliche Personen und etwa dadurch hervorgerufene Schädigungen der betroffenen Individuen sind sicherlich schon so lange beobachtet worden, als überhaupt Impfungen vorgenommen werden. Doch erst die besonderen Umstände, unter welchen der Zoologe Blochmann an der Hand eines in seiner eigenen Familie vorgekommenen Falles von Vakzineübertragung auf Ekzem das Thema erörterte, und die durchaus sachliche Art, in welcher er seine Mitteilungen machte, waren imstande, die Aufmerksamkeit weiterer medizinischer Kreise zu wecken. Es versteht sich von selbst, daß mit der Erkenntnis, daß diese Schädigungen sehr schwere sein können, auch das Verlangen wachgerufen wurde, Vorbeugungsmaßregeln zu treffen. Dabei haben wir uns einige Fragen vorzulegen, deren Beantwortung uns einmal die Notwendigkeit prophylaktischer Maßnahmen und dann die Art derselben klar legen soll: 1. Welches sind die Schädigungen durch Vakzineübertragung, 2. sind dieselben so schwer, daß Maßnahmen zu ihrer Verhütung unbedingt gefordert werden müssen, und 3. unter welchen Bedingungen kommen sie zustande? Wir dürfen hier einmal ganz absehen von jenen nicht gerade seltenen Ereignissen, wo aus Unvorsichtigkeit ein Arzt mit dem Impfinstrument sich selbst oder andere verletzt und auf diese Weise VakzineInfektionen hervorruft. Ihre Prophylaxe ergibt sich ja von selbst. Wir dürfen auch absehen von jenen Fällen, wo ohne Mithilfe eines Instrumentes animale Lymphe übertragen wurde. Ueber einen derartigen Fall hat Schirmer berichtet, wo ein noch mit Impfen beschäftigter Arzt das Auge eines 54 jährigen Mannes nach einem hineingepflogenen Gegenstand untersuchte und auf diese Weise eine schwere vakzinale Erkrankung des Lidrandes und der Konjunktiva hervorrief, als deren Folge ein halb linsengroßes zentrales Geschwür, diffuse Trübung fast der ganzen Hornhaut und schließlich ein großes Leukom und Verlust des Sehvermögens hervorging. Diese Fälle sind jedoch außerordentlich selten, entbehren im Grunde genommen der praktischen Bedeutung und ihre Verhütung ist zugleich im folgenden miteinbegriffen: Anders steht es mit den Uebertragungen von Kuhpockenimpfstoff von Impflingen, also von humanisierter Lymphe auf andere Personen, weil diese Ereignisse viel häufiger sind, als man gewöhnlich anzunehmen pflegt, und weil sie unter Umständen tatsächlich sehr schwere Folgen nach sich ziehen können. Nur darf vorausgeschickt werden, daß der weitaus größte Teil solcher Vakzineerkrankungen durchaus harmloser Natur ist, so daß, wenn diese allein in Frage kämen, eine Erörterung über prophylaktische Maßnahmen so gut wie überflüssig wäre. Hierher gehören alle diejenigen Fälle, bei denen sich einzelne oder nicht zu zahlreiche, meist isoliert stehende Pusteln auf der Haut irgend eines Körperteiles entwickeln. Als Voraussetzung für die Haftung des Impfstoffes dürfen wir oberflächliche, mit dem freien Auge nicht immer sichtbare Defekte der Epidermis ansprechen, da an sich die trockenen, verhornten, oberflächlichen Epithellagen der Haut zur Aufnahme des Virus sicherlich nicht geeignet sind. Eigenartig ist hierbei nur die meist affallend starke entzündliche Reaktion der Umgebung der Pusteln, die nicht selten je nach dem Sitze der Pusteln recht beträchtliche Schmerzen hervorruft und vielleicht darin ihren Grund hat, daß frische humanisierte Lymphe meist sehr virulent ist. In den von mir selbst beobachteten, nicht gerade seltenen Fällen war der Sitz der Pustelentwickelung am häufigsten die unbehaarte Partie des Kopfes, die Wangen, die Nase, die äußeren Teile der Augenlider, die Umgebung des Mundes, doch können an den verschiedensten Stellen des Körpers, an den Händen, den Vorderarmen, den Genitalien Pusteln entstehen. es Weit größeres Interesse beansprucht die Affektion dann, wenn sich die Pusteln als Augenlid- oder Konjunktivalvakzinolae, also in nächster Nähe des Bulbus entwickeln. Die relative Häufigkeit derartiger Erkrankungen beruht wohl einerseits in der Möglichkeit des leichteren Eindringens des Virus in die Haarbälge des Lidrandes und in der Beschaffenheit der zarten, feuchten, nicht verhornten Epithelien des intermarginalen Teiles des Lides, andererseits in der menschlichen Neigung, sich mit den Händen an den Augen zu reiben. An sich ist die Affektion für die befallenen Teile durchaus ungefährlich, wenn auch mit meist heftigen, entzündlichen Reaktionserscheinungen verbunden, aber können durch sie Komplikationen von seiten der Hornhaut gegeben sein, die für die Funktionsfähigkeit des Auges verhängnisvoll werden können. Es sind zwei klinische Bilder beschrieben worden, die nach Aussehen und Verlauf völlig von einander verschieden sind. Das ist einmal die Bildung von oberflächlichen Infiltraten und Geschwüren, die durch Mazeration des Epithels in dem reichlichen, zum Teil stagnierenden Sekret entstehen, mit fast durchgehends baldiger Heilung. Die zweite Form, die Keratitis profunda postvaccinolosa ist in ihrem Verlaufe viel chronischer, schwerer und in ihrer Prognose wesentlich ungünstiger. Wir kennen bis jetzt etwa ein Dutzend Fälle, in denen auf diese Weise eine ernste dauernde Schädigung bis zum völligen Verlust des Sehvermögens des befallenen Auges eingetreten ist. Einen Uebergang zu der folgenden Gruppe bildet der von Blochmann mitgeteilte Fall seines eigenen, an Ekzem leidenden Kindes, das den Verlust seines rechten Auges zu beklagen hat, ohne daß am Auge selbst, weder auf der Konjunktiva, noch dem Lidrande Vakzinepusteln sich entwickelten. Nur war hier die Umgebung des Auges der Sitz zahlreicher konfluierender Pusteln, welche durch die sie begleitende starke entzündliche Reaktion einen fast völligen Verschluß des Auges bewirkten. Die Entstehung ausgedehnter Trübung und Mazeration der Hornhaut mit nachfolgender Perforation führte zu Panophthalmitis und Verlust des Auges. Sehr schwere Erkrankungen mit nicht seltenem letalen Ausgang sehen wir dann, wenn humanisierter Kuhpockenimpfstoff auf ungeimpfte, an universellem Ekzem leidende Kinder übertragen wird, und namentlich dann, wenn ausgedehntere Partien des Körpers, in erster Linie des Kopfes befallen werden. Das dadurch entstehende Krankheitsbild hat man als Vakzinose, generalisierte Vakzine, Vaccinia varioliformis, ich selbst im Einklang mit der Variola confluens als Vaccinia confluens der Ekzematiker bezeichnet. Der klinische Verlauf ist fast in jedem Falle der gleiche, die Prognose namentlich bei schwächlichen Kindern, großer Ausbreitung der Affektion und mangelhafter Pflege stets dubiös. Blochmann hat 20 Fälle von Uebertragung auf ungeimpfte Kinder zusammengestellt, von denen 6 letal verliefen, das ergibt eine Mortalitätsziffer von etwa 30%. Die Notwendigkeit prophylaktischer Maßnahmen kann demnach wohl kaum bestritten werden. Es könnte nur, anscheinend mit Recht, der Einwand erhoben werden, daß nach den Angaben in der Literatur die Schädigungen doch eigentlich recht seltene sind, und daß es im Interesse einer glatten und möglichst einfachen Durchführung der Vakzination gelegen sei, sie von allem nicht absolut notwendigen Ballast freizuhalten. Dagegen muß aber betont werden, daß man aus den in der Literatur niedergelegten Angaben keineswegs auf das wirkliche prozentuale Verhältnis der Erkrankungen bzw. Todesfälle zur Zahl der Impfungen schließen darf, ganz abgesehen davon, daß man in der Wertschätzung von selbst an sich richtigen Zahlen sehr verschiedener Meinung sein kann. Als Ausgangspunkt der Erkrankungen, die durch Vakzineübertragung zustande kommen, haben wir also einen Impfling anzusprechen, und zwar müssen dessen Pusteln auf irgend welche Weise geöffnet worden und Lymphe nach außen getreten sein, die dann auf zweierlei Wegen auf die befallenen Personen verschleppt werden kann. Der erste Weg des direkten Kontaktes der erkrankten Partien mit der Impfstelle ist sicherlich der viel seltenere. Als ein Beispiel möchte ich Ihnen hier anführen, daß eine Mutter auf ihrer linken Wange, die sie zur Beruhigung ihres Kindes auf die Impfstelle legte, drei Pusteln sich entwickeln sah. Viel häufiger ist der zweite Weg, bei welchem ein oder auch mehrere Zwischenträger die Uebertragung vermittelten. In vielen Fällen sind es die Hände der pflegenden Personen, gleichzeitig mit dem Impfling benutzte Verbandmaterialen, Handtücher, Bettstücke u. dergl. In einer großen Reihe der beobachteten Fälle läßt es sich natürlich überhaupt nicht feststellen, auf welche besondere Weise die Uebertragung zustande kam. Wir wissen nur, daß die erkrankte Person mit dem Impfling in nähere Berührung gekommen ist. Schlafen in demselben Bett, gleichzeitiges Baden in derselben Wanne, der innigere Kontakt überhaupt, wie ihn teils mit, teils ohne gleichzeitige Pflege des Impflings die Familienzugehörigkeit zu dem Kinde mit sich bringen muß, können uns hier eine wenn auch unvollständige Erklärung geben. So erlebte ich einmal in einer Familie von 5 Leuten, Vater, Mutter und 3 Kindern, bei sämtlichen Mitgliedern Vakzineinfektionen, die von dem zweitältesten Kinde, einem von mir geimpften und an abortiver Vakzine der einen Gesichtshälfte sekundär erkrankten Knaben ihren Ausgang nahmen. Die erste Uebertragung erfolgte dadurch, daß der Vater das jüngste, mit ausgedehntem Ekzem behaftete, ungeimpfte Kind auf das nämliche Kissen legte, auf dem kurz vorher der Impfling mit der infizierten Gesichtshälfte gelegen war. Für die weiteren drei Uebertragungen beim Vater entwickelten sich zwei Pusteln über dem rechten Unterkieferwinkel, bei der Mutter eine auf der rechten Wange und eine auf dem Mittelfinger der rechten Hand, bei der achtjährigen Schwester drei konfluierende Pusteln auf der Nase konnte ich nur allgemein das Zusammenleben mit dem Impfling verantwortlich machen, ohne daß es möglich gewesen wäre, den genauen Weg zu eruieren, auf welchem die Uebertragung erfolgte. Bevor wir in die Erörterungen der Maßnahmen selbst eintreten wollen, die dazu führen könnten, die Umgebung unserer Impflinge vor Vakzineübertragungen zu schützen, ist es vielleicht geboten, darüber ins Klare zu kommen, ob überhaupt von irgend welchen Maßnahmen ein Erfolg erwartet werden darf, oder ob derartige Vorkommnisse, wie die oben genannten, als unvermeidlich eben in Kauf genommen werden müssen. Wenn man sich aber die Einfachheit der Wege vergegenwärtigt, auf welchen in den uns in dieser Richtung hin bekannten Fällen die Uebertragung erfolgt, und zweifellos berechtigt die Annahme macht, daß auch diejenigen Fälle, deren Entstehung uns nicht vollauf zur Kenntnis gelangt, in gleicher oder ähnlicher Weise zustande kommen, dann wird wohl niemand über die Möglichkeit einer wirksamen Prophylaxe im Zweifel sein können. Die Voraussetzung für die Durchführung der Maßnahmen selbst bildet jedoch ein Moment, auf das besonders hingewiesen zu haben, Blochmann das unbestrittene Verdienst für sich in Anspruch nehmen darf. Das ist die völlige Vertrautheit der impfenden Aerzte mit den Gefahren, welche durch Vakzineübertragung entstehen können. Eine gründliche Belehrung der Studierenden, sowohl in den obligatorischen Impfkursen, als auch durch eingehende Hinweise in den mit der Impfung sich befassenden Lehrbüchern und Kompendien ist daher zur Durchführung wirksamer Prophylaxe unbedingt erforderlich. Als Maßnahme selbst kommt in erster Linie, aber wie ich ausdrücklich betonen möchte, nur in besonders gelagerten, also in Ausnahmefällen in Betracht die Unterlassung der Vakzination. Sie ist meines Erachtens dann gerechtfertigt, wenn wir Kenntnis davon erlangt haben, daß in der Umgebung des zu impfenden Kindes ein ungeimpftes an Ekzem leidendes Kind sich befindet und die Verhältnisse derart sind, daß eine Trennung der Geschwister nicht durchgeführt werden kann, und auch von den pflegenden Personen des Impflings irgend welche Sorgfalt und Reinlichkeit bei der Behandlung der Pusteln nicht erwartet werden darf. Derartige Verhältnisse zu beurteilen, wird dem öffentlichen Impfarzte so gut wie nie Gelegenheit gegeben sein, sondern die Entscheidung hierüber ist Sache des Hausarztes, der die Familie näher kennen gelernt hat. In denjenigen Fällen gleicher Art, in denen zwar ebenfalls eine Trennung der beiden Kinder nicht durchgeführt werden kann, jedoch die Umgebung derselben willig und intelligent genug erscheint, um den Anordnungen des Arztes Folge leisten zu können, möchte ich die Anlegung eines Impfschutzverbandes empfehlen, der die weitere Verschleppung austretender Lymphe zu verhindern imstande ist. Daß die allgemeine obligatorische Einführung der Anlegung eines Schutzverbandes, also auch für öffentliche Impfungen, imstande sei, jede Uebertragung zu verhindern, möchte ich jedoch nicht behaupten, ich glaube vielmehr, daß auch dann noch notwendig wäre, was als dritte und vornehmlichste prophylaktische Maßnahme in Frage kommt, nämlich jeder Mutter Verhaltungsvorschriften schon bei der Impfung in die Hand zu geben, die sie über die Gefahren, welche von dem geimpften Kinde ausgehen können, kurz und klar und über die Möglichkeit ihrer Verhütung eingehend belehren. Es ist selbstverständlich, daß in solchen Verhaltungsvorschriften eine rationelle Behandlung der Impfpusteln selbst empfohlen werden muß, schon um den natürlichen Eintrocknungsprozeß der Pusteln nicht zu stören und so das Stadium der Infektionsmöglichkeiten nicht unnötigerweise zu verlängern. Aus dem, was ich oben über die Bedingungen, unter welchen die Uebertragung erfolgt, gesagt habe, geht hervor, daß wir in erster Linie die Pflegepersonen der Impflinge dringend vor zufälliger oder absichtlicher Berührung der Impfstelle zu warnen haben. Haben sie die Impfstelle trotzdem berührt, so sollen sie nicht unterlassen, sich sogleich die Hände, womöglich mit Seife und Bürste, sorgfältig zu waschen. Mit Händen, an denen die aus den Impfpusteln ausgetretene Lymphe noch haften kann, dürfen sie sich nicht die Augen reiben und weder an sich selbst, noch an anderen Personen wunde oder mit Ausschlag behaftete Hautstellen berühren. Wäsche und Verbandmaterialien, die auf der Impfstelle gelegen waren, oder sonstwie mit derselben in Berührung kamen, dürfen erst dann wieder benützt werden, wenn sie vorher fünf Minuten in kochendem Wasser gelegen waren. Verbände werden am besten sofort nach Abnahme verbrannt. Die gemeinsame Benutzung des Wasch- und Badewassers zusammen mit einem Impfling ist zu vermeiden. Für den Impfling ist ein eigenes Abtrockentuch zu verwenden. Die besonderen Gefahren, denen namentlich ungeimpfte, an Ausschlag leidende Kinder ausgesetzt sind, werden dazu führen müssen, daß solche Kinder mit den geimpften Geschwistern so wenig als nur möglich in Berührung gebracht werden dürfen, sie sollen namentlich während des Höhestadiums der Pusteln nicht zusammen spielen und insbesondere nicht zusammen schlafen. Ich glaube, daß derartige Anordnungen, wenn sie jeder Mutter nicht nur in die Hand gegeben, sondern auch mit wenigen Worten empfohlen werden, geeignet sind, als gute Vorbeugungsmaßregel zu dienen, wenn auch zugegeben werden muß, daß damit die Prophylaxe so gut wie ganz den Händen von Laien überliefert ist und infolgedessen ihre Durchführung niemals eine vollkommene sein wird. Bericht üb, d. XIV. Intern. Kongr. f. Hygiene u. Demographie. II. 73 |